Dienstag, 24. Februar 2009

Ernstfall

Der Zug hält und ein lautes Zischen ertönt. Die alte klapprige Bahn ist da. Ich schaue mich ein letztes Mal wehmütig um, betrachte die riesige Halle, die Menschenmassen, die Gepäckbänder und die Hinweistafeln. Ein letztes Mal überlege ich, was ich tun soll, tausche Blicke mit bekannten Gesichtern, schnappe meine wuchtige Tasche und drängle mit meinen zukünftigen Mitfahrern in die engen Waggons. Suchend wandere ich durch die Gänge und entdecke einen freien Platz neben einem kleinen Jungen, der gebannt auf seinen Nintendo DS starrt.
Ein kurzer Blick auf mein Handy, keine neuen Nachrichten. Gelangweilt zucke ich mit den Schultern. Der Zug ruckelt langsam an, gewinnt an Geschwindigkeit, und schon rast die Landschaft wie im Flug vorbei. Gedankenverloren schaue ich hinaus. Will ich das hier wirklich? Es ziehen Wälder, Wiesen und Städte vorbei. Ich versinke eine lange Zeit in diesem Bild.
Station um Station passieren wir, immer wieder wandert mein Blick auf die Anzeige meines Handys. Ein Kontrolleur schreckt die schlafenden Passagiere auf und fordert deren Fahrausweise. Ein auffällig gekleideter junger Mann diskutiert um die Gültigkeit seines Scheines, auf der anderen Seite des Waggons verkrümeln sich zwei Mädels in eine Toilettenkabine. Mein Entschluss steht.
Ich schaue immer wieder auf die Uhr, warte, dass meine Zeit kommt, schlafe und wache abwechselnd. Ich beobachte die Menschen, entdecke Trauer, Mengen einfacher, langweiliger Leben. So soll das sein? Darüber habe ich schon zu oft nachgedacht. So geht’s nicht weiter. Ich versuche, die Woge an Gedanken abzuwenden, einen klaren Kopf zu bekommen, noch mal auf die Uhr zu schauen und den vertieften Jungen neben mir zu ignorieren. Wenn selbst Kinder schon so verdorben sind...
Mein Handy meldet sich. Startklar. Alles wie geplant. Ein kurzer Blick auf den Tacho. Gute Zeit. Los jetzt. Ich stehe auf, greife nach meiner Tasche, prüfe, ob ich nichts hab liegen lassen und kämpfe mich in den nächsten Waggon. Zielstrebig tastet mein Blick die Umgebung ab, da, ein Bekannter! Kurzer Austausch, dann Trennen wir uns.
Verdammt, ein Schaffner mit Polizisten! Wir flüchten durch den ganzen Zug, ernten verwirrte Blicke, rempeln Kinder um. Nun müsste jeder seinen Waggon erreicht haben. Wir sind unaufhaltsam. Die letzten Minuten sind gekommen.
Ein erschrockener Schrei! Wurde ich entdeckt? Neiiiin! Ich springe über die Massen, diese ganzen Sünder, hinweg, suche nach dem kleinen handlichen Knopf an meinem Gürtel und drücke ihn wie schon tausende Male zuvor, mit dem Unterschied des Ernstfalles.
Ein kurzes Zucken an meinem Gürtel, mein Rucksack fliegt mit lautem Getöse in die Luft. Die Schreie, eine letzte Genugtuung, die absolute Freude. Jetzt kann das Paradies nicht mehr weit sein.
Nina Kreuzberger

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